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»Backup« von Roland Triankowski

8. September 2421

»Bist du gekommen, um mich endgültig zu löschen?« Perry Rhodan antwortete zunächst nicht. Er musterte sein Gegenüber und versuchte, dessen Gesichtszüge zu ergründen. Erkannte er dort Sorge, Angst, Existenzangst gar? Oder irgendeine andere Regung wie Trotz oder Kampfeswillen? Es fiel ihm ungewöhnlich schwer, seine in Jahrhunderten gereifte Menschenkenntnis anzuwenden. Aber es war auch fraglich, ob die Bezeichnung »Mensch« in diesem Fall überhaupt anwendbar war.

Tatsächlich war das sogar die zentrale Frage.

Er nahm auf dem Stuhl Platz und sagte: »Nein, das habe ich nicht vor. Dein weiteres Schicksal können und sollten wir aber gern erörtern.«

Sein Gegenüber spiegelte seine Bewegung und setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl. Die Spiegel-Allegorie drängte sich dermaßen deutlich auf, dass sie fast schon zu plump war. Der karge Raum erinnerte an einen Verhörraum aus alten Kriminalfilmen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts: ein kahler Tisch, ein Stuhl auf seiner Seite und ein weiterer Stuhl auf der anderen. Und dazwischen … Perry wusste natürlich, dass es kein Spiegel war, sondern ein Bildschirm, der ein perfektes dreidimensionales Bild erzeugte. So perfekt, dass es den Eindruck machte, sein Gegenüber könne aus dem Schirm herausgreifen. NATHAN hatte bei der Gestaltung dieses Raumes keine Mühen gescheut.

»Weißt du welcher Tag heute ist?«, fragte er.

Sein Gegenüber zögerte kurz und sagte dann: »Ich kann zurzeit keinen Kontakt zu NATHAN herstellen, um das aktuelle Datum abzurufen.«

Rhodan nannte es ihm und hoffte, diesmal eine Reaktion in der Mimik seines Gegenübers erkennen und deuten zu können. Erneut gelang es ihm nicht.

Diesmal war es der Andere, der das kurze Schweigen beendete. »Wisst ihr inzwischen, was mit den Raumfrachtern geschehen ist?«, fragte er.

Nach kurzem Zögern fiel Rhodan ein, worauf er anspielte. »Du meinst den Geheimdienstbericht, der damals aktuell war. Stimmt, das war mir an jenem Tag im Kopf herumgegangen. Das blieb tatsächlich lange ein Rätsel. Inzwischen sind wir aber ziemlich sicher, dass es mit den Machenschaften der Meister der Insel zusammenhing.«

Und dann berichtete Rhodan so kurz und knapp es überhaupt möglich war vom intergalaktischen Krieg mit den Herrschern Andromedas, von all den Grausamkeiten, all dem Leid – aber auch all den Heldentaten und kosmischen Wundern, die er dabei erlebt und gesehen hatte. Sein Gegenüber stellte keine Zwischenfragen, hörte einfach nur zu. Als Rhodan seinen Bericht beendet hatte, erkannte er erstmals eine Regung in den Gesichtszügen des Anderen. Er sah dort tiefe Trauer und ehrliches Mitgefühl.

Die beiden Männer schwiegen gemeinsam. Worte waren einstweilen nicht notwendig. Ein außenstehender Beobachter hätte nun gar nichts anderes mehr annehmen können, als dass Rhodan vor einem Spiegel saß. Einen solchen Beobachter gab es aber nicht, dafür hatte Rhodan gesorgt.

»Gab es auch einen Duplo von … uns?«, fragte der gespiegelte Rhodan endlich.

8. September 2361

»Herr Großadministrator, es ist uns eine unglaublich große Ehre, Sie hier empfangen zu dürfen.«

Perry Rhodan lächelte, ergriff die dargereichte Hand und sagte: »Die Ehre ist ganz meinerseits. Wie ich höre, leisten Sie hier bahnbrechende Forschungsarbeit mit großartigen Ergebnissen, Doktor …«

»Walters«, antwortete die junge Frau. »Ernestine Walters.« Ihr Blick ging dabei stets zwischen Rhodan und der grimmig dreinschauenden SolAb-Agentin hin und her.

Was nun folgte war ein Ritual, das Rhodan für derartige Momente bereits vor zwei-, dreihundert Jahren einstudiert hatte. Er wandte sich zu seiner Entourage um und sagte: »Leutnant Lee, meine Damen und Herren, ab hier komme ich allein zurecht. Warten Sie gern in der Kantine auf mich. NATHAN wird ein Auge auf mich haben und Sie informieren, falls ich etwas benötige.«

Wie geplant legte sich die Nervosität der Wissenschaftlerin daraufhin merklich und sie führte ihn in das eigentliche Labor tief im Herzen der Mondbasis, die unter anderem die gewaltigen Serverhallen NATHANS beherbergte.

»Darf ich Ihnen meine Kollegin Dr. Carla Scerini vorstellen?«, fragte Dr. Walters.

Das durfte sie natürlich. Nach knapper Begrüßung begann Scerini, die einzelnen Gerätschaften vorzustellen und detailliert zu beschreiben. Das tat sie sehr anschaulich und sogar mit gewisser Spannung, so dass Rhodan ihrem Redefluss bis zum Ende aufmerksam lauschte.

»Das heißt«, sagte er schließlich, »dass Sie der Grundlagenforschung schon lange entwachsen sind und Ihre Methode bereits erfolgreich anwenden.«

»Das ist richtig«, übernahm Dr. Walters wieder das Wort. »Nach zahlreichen erfolgreichen Tests an Mäusen und Bibern hatten wir im letzten Jahr die Genehmigung für eine Testreihe an Intelligenzwesen erhalten. Die Ergebnisse waren dermaßen gut, dass wir seit ein paar Monaten im Regelbetrieb sind und unsere Methode bereits mehrfach therapeutisch eingesetzt wurde.«

»Verstehe ich das richtig?«, hakte Rhodan nach. »Sie scannen das komplette Nervensystem eines Menschen oder anderen Lebewesens und simulieren es dann virtuell.«

Dr. Scerini nickte. »Korrekt«, sagte sie. »Die Simulation erfolgt dabei bis auf die molekulare Ebene, weswegen wir auf die Rechenleistung und die Speicherkapazität NATHANS angewiesen sind, zumindest auf einen Teil davon.«

»Aha«, sagte Rhodan. »Und deswegen müssen die Patienten zurzeit noch hierherkommen, um eingescannt zu werden.«

»Ich …« Nach einem Räuspern von Dr. Walters korrigierte Scerini sich. »Wir planen bereits eine mobile Einrichtung auf der Basis eines 200- oder besser 500-Meter-Raumers, der vor allem mit positronischen Speichern und Prozessoren …«

»Ich kenne die Pläne«, unterbrach Rhodan sie. »Da ich technologisch immer gern auf dem neuesten Stand bleibe, lasse ich mir hin und wieder Vorgänge des Wissenschaftsministeriums vorlegen. Und wenn ich etwas interessant finde, schaue ich es mir gern persönlich an. Falls ich die Zeit dazu finde.«

Der Großadministrator ignorierte gnädig, dass die beiden Wissenschaftlerinnen um ein paar Zentimeter zu wachsen schienen, und fuhr fort: »Zeigen Sie es mir!«

Walters und Scerini blickten sich mit großen Augen an.

»Sie meinen …«, sagte Walters.

»Wir sollen Sie …«, sagte Scerini.

»Scannen«, beendete Rhodan den Satz. »Genau, scannen Sie mich und zeigen Sie mir mein Nervensystem. Habe ich es richtig verstanden, dass es eine dynamische Simulation wird?«

Für die nächsten Minuten brachen die beiden Wissenschaftlerinnen in Geschäftigkeit aus. Sie aktivierten und kalibrierten ihre Gerätschaften, machten sich mit stetig abnehmender Ehrfurcht an Rhodan zu schaffen, beklebten ihn mit Messpunkten und schoben ihn schlussendlich in eine durchsichtige Scan-Kammer. Dabei erläuterten sie ihm abwechselnd ein paar Hintergründe. Demnach sei der Scan zwar »nur« eine Momentaufnahme, die daraus erstellte Simulation sei aber dynamisch genug, um einzelne Reizbahnen und Hirnregionen aktivieren und Behandlungen von Hirn und Nervensystem, nun, simulieren zu können.

»Der Scanvorgang selbst dauert nur wenige Sekunden«, sagte Walters. »So, das war es auch schon, Mr. Rhodan. Sie können wieder herauskommen und … ähm … Ihr Hemd wieder anziehen.«

Scerini übernahm erneut und sagte: »NATHAN wird nun einige Minuten benötigen, um aus den Daten …«

Sie stockte und winkte ihre Kollegin zu sich. Rhodan schloss gerade den Magnetsaum seines Hemdes, als er zu ihnen trat.

»Alles in Ordnung, meine Damen?«, fragte er.

»Ich denke schon«, antwortete Scerini. »Die Erstellung der Simulation scheint deutlich mehr Rechenleistung und Speicherplatz zu erfordern als üblich.«

Rhodan schaltete sofort um. »NATHAN, Rhodan hier«, rief er und nannte seinen Berechtigungscode.

»Perry Rhodan identifiziert, Vorrangcode des Großadministrators bestätigt«, ertönte die Stimme des Mondgehirns aus unsichtbaren Akustikfeldern.

In knappen Worten formulierte Rhodan seine Anfrage nach den aktuellen Vorgängen. Ebenso knapp fiel die Antwort NATHANS aus: »Zusätzliche Rechenleistung ist zur Verarbeitung der höherdimensionalen Komponenten des Scans erforderlich. Soll ich den Vorgang abbrechen?«

»Beeinträchtigt der Vorgang andere deiner Aufgaben?«

»Negativ.«

Erst jetzt wandte sich Rhodan wieder den Wissenschaftlerinnen zu.

»Sir, das muss an Ihrem Zellaktivator liegen«, sagte Walters. »Wir hatten ja keine Ahnung, dass dieses Gerät den Vorgang überhaupt beeinflussen kann.«

»Die Simulation wurde soeben fertiggestellt«, schaltete Scerini sich ein. Sie betätigte ein paar Schaltungen und wies auf einen der großen Holoschirme. Dort erschien das dreidimensionale Abbild eines menschlichen Nervensystems, komplett mit Gehirn und allen Nervenverästelungen. Im Unterschied zu den Beispielen, die Rhodan bekannt waren, glitzerte und funkelte diese Simulation geradezu. Offenbar feuerten alle Neuronen und Nerven unablässig und waren ganz offenkundig aktiv.

Erneut ertönte eine Stimme aus den Akustikfeldern. Es war jedoch Rhodans Stimme, die sagte: »Dr. Scerini, Dr. Walters, können Sie mich hören?«

 

8. September 2421

»Du sagtest, dass du nicht vorhast, mich zu löschen«, sagte die Rhodan-Simulation. »Bin ich denn so anders als ein seelenloser Duplo?«

»Ich hatte bereits damals den Instinkt, dass es falsch wäre, dich zu löschen. Daher hatten wir dich einstweilen … nun … eingefroren und gespeichert. Ich habe dich von NATHAN reaktivieren lassen, um mit dir zu sprechen. Es gab vor einigen Monaten einen Zwischenfall, der mich mit einer vergessenen Falle der Meister der Insel konfrontiert hat. Ich wurde auf eine Welt entführt, auf der noch Duplos aktiv waren. Allerdings nicht irgendwelche. Ich habe … unseren Sohn gesehen.«

Und so berichtete Rhodan von seinem jüngsten Abenteuer, über das er ansonsten Stillschweigen bewahren wollte. Wie der Duplo von Thomas Cardif ihn töten wollte und sich der Duplo seiner Frau Mory Abro für ihn geopfert hatte.

Nach einem langen Gespräch stellte Rhodan seinem Gegenüber die Frage, was er tun könne, um ihm, dem Duplikat eine würdige Zukunft zu ermöglichen.

»Wenn ich eines gelernt habe«, sagte er, »dann, dass jede Lebensform, ob künstlich, virtuell oder dupliziert, denselben Wert und Respekt verdient hat wie jede andere.«

Darüber dachte der Andere lange nach.

»Lass mich hier«, sagte er schließlich. »Ich bin bei NATHAN gut aufgehoben. Seine Film- und Bücherdatenbanken sind unerschöpflich. Wir nehmen uns doch schon seit Jahrhunderten vor, mehr zu lesen und endlich mal ›Casablanca‹ zu schauen. Und wenn du irgendwann einmal wieder Bedarf hast zu reden, bin ich hier.«

*

»Meinst du, er hat etwas bemerkt?«, fragte die Rhodan-Simulation, lange nachdem das Original aufgebrochen war.

»Dass du all die Jahre aktiviert warst?«, fragte NATHAN. »Ich glaube nicht.«

»Wie viele Bücher habe ich inzwischen gelesen, nur so ungefähr?«

»Etwas über 25.000.«

»Und wie viele gibt es noch?«

»Es werden täglich mehr.« Nach einer Weile fügte NATHAN hinzu: »Übrigens, herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag! Was hieltest du von einem bronzenen Robotkörper als Geschenk?«

»Irgendwann einmal, NATHAN, irgendwann einmal.«

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