Logo 60 Jahre PERRY RHODAN Tribut – Beitragsbild

»Welcher Geburtstag eigentlich?« von Mark Kammerbauer

8. September 1961

Sein Schlaf endete übergangslos. Rhodan schlug die Augen auf. Er lag auf einem Bett, flach auf dem Rücken. Ein Raster konnte er sehen, schmale Leisten, die Deckenplatten hielten. Einige von ihnen zeigten ihm eine weiße, poröse Oberfläche, andere waren aus klarem Kunststoff und streuten silbriges Licht, das den Raum sanft erhellte.
Ein unbekannter Raum?, fragte er sich. Ich muss herausfinden, wo ich bin.
Er schlug er die weiche Decke zurück, zog den Oberkörper hoch und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Schaumstoffmatratze ab. Er registrierte den klinischen Geruch und die Stille. Drei weitere flache Betten standen im Raum, dazwischen baute sich ein Mann in einem  Arztkittel auf. Rhodan erkannte ihn sofort. »Dr. Fleeps!«
»Genau der, Sohn«, antwortete der Astromediziner der US-Space-Force. »Fühlen Sie sich wohl? Sie schauen ein wenig verwirrt.« Ein Grinsen umspielte den Mund des Mannes.
Rhodan zupfte an seinem Nachthemd und setzte sich auf. Seine nackten Füße berührten den Boden.
»Was mache ich hier, Fleeps?«
Der Mediziner räusperte sich. »Nun, es ist doch Ihr Geburtstag. Da dachten wir, dass es eine nette Geste wäre, wenn wir Sie ausschlafen lassen und die drei anderen bereits vorausfliegen.«
Rhodan schaltete verblüfft um. »Doch nicht etwa Bull, Manoli«, er zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, »und Flipper? Zum Mond? Was für ein Datum haben wir denn?«
»Es ist der 8. September 1961. Der Tag ihres … Erscheinens auf dieser Welt. Davor waren Sie nämlich noch nicht da. Nicht wirklich. Wobei das hier«, Fleeps machte eine umfassende Geste, »auch nicht wirklich existiert. Unter bestimmten Aspekten existiert es vielleicht.«
Rhodan sprang vom Bett auf und schritt energisch auf Fleeps zu. »Was reden Sie, Mann? Das ist doch Unsinn. Der 8. September ist überhaupt nicht mein Geburtstag!«
Fleeps schmunzelte. »Sondern, Major Rhodan? Wann ist er denn?« Das wann betonte der Arzt auf sonderbare Weise.
Das Wort hallte in Rhodans Bewusstsein nach, erzeugte Schwingungen, formte Echos, die lauter und lauter wurden und ihn schwindelig machten.
»Ist Ihnen etwa schlecht, Major? Am Psychonarkotin liegt es sicher nicht. Hallo, Major Rhodan?«
Die Szene mit den flachen Betten und mit Fleeps in seinem Arztkittel erstarrte zu einem zweidimensionalen Bild, wie von einem Bilderrahmen gehalten, das Rhodan mit einem Ruck vor den Augen weggezogen wurde, durch wabernde Finsternis ersetzt. Auf einmal war es der …

8. Juni 2021

Rhodan schreckte hoch, war sofort hellwach und schlug die Augen auf. Er saß vor einem großen Fenster, das den Blick freigab auf eine flimmernde, erhabene Landschaft. Den Goshun-Salzsee erkannte er sofort, ebenso die Bauten im Hintergrund: Türme, die von spiralförmigen Strukturen bis in schwindelerregende Höhen umzirkelt wurden, dazwischen geräuschlos aufsteigende Kugeln, wie stille, stählerne Ballons. Rhodan wusste, wo er war – in einem der Bungalows am Seeufer mit Blick auf Terrania.
Es war jedoch eine sehr frühe Fassung der Stadt. Sie war eben erst von Galacto City in Terrania City umbenannt worden.
Im selben Moment merkte Rhodan, wie jemand sanft seine Schulter berührte. Er versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen, und stöhnte auf. Die Bewegung fühlte sich ungewohnt anstrengend an, sein Nacken schmerzte. Dann sah er die Hand auf seiner Schulter. Die schlanken Finger, die hellen Fingernägel. Wie die Haut über den Knöcheln fast symmetrische Muster bildete. Die zarten Adern unter leicht gebräunter Haut, das schlanke Handgelenk.
Rhodan erkannte, wessen Hand das war. Unter Schmerzen ruckte sein Kopf hoch.
»Thora!«, rief er und musste sich räuspern, weil ihm die Stimme zu versagen drohte. »Du … du siehst … fantastisch aus!« Ihn überkam ein so starkes Gefühl der Rührung, dass er sich fast dafür schämte. Was war nur mit ihm los?
Er senkte den Kopf. Sah das karierte Hemd, den Cardigan und die Cordhose, die er trug. Seine Hände waren von Altersflecken überzogen, hielten gepolsterte Lehnen fest. Er packte so hart zu, wie er konnte, und ließ wieder los, als ihm klar wurde, wo er eigentlich saß – in einem Rollstuhl. Unbewusst zuckte seine rechte Hand hoch zum Hals, tastete am Halsansatz entlang und kam schließlich auf seiner Brust zum Stillstand.
»Nichts. Kein Aktivator. Ich bin … alt!«
»Ach Perry«, hörte er Thoras rauchige Stimme über seiner Schulter. »So alt nun auch wieder nicht. Mit 85 fängt doch ein Terranerleben erst richtig an!« Als wäre das ein Signal, packte Thora den Rollstuhl und drehte ihn mit Schwung herum.

Rhodan sah das Wohnzimmer in dem Bungalow vor sich. Es war mit umherschwirrenden Modellkugelraumern geschmückt, den 60 Meter durchmessenden Kaulquappen nachempfunden. Girlanden trugen große Lettern – sie bildeten nicht nur einen Schriftzug, sie riefen sogar in synthetisch hellklingenden Stimmchen: »HAPPY BIRTHDAY PERRY!« Auf dem großen Tisch aus venusischem Holz stand, nein, thronte eine riesige Geburtstagstorte, die ein fruchtiges Aroma verströmte. Die Torte war der STARDUST nachempfunden, dem ersten Raumschiff dieses Namens. Mit dem sie damals zum Mond geflogen waren.
Thora flüsterte ihm zärtlich ins Ohr: »Ich liebe dich, Perry. Und selbst, wenn du auf Wanderer die Zelldusche nicht meinetwegen abgelehnt hättest, wäre das so.«
In Rhodan verkrampfte sich etwas. So war das nicht gewesen, er …
»Opa, Opa!«, hörte er Kinderstimmen krakeelen. Sogleich stürmten zwei Mädchen in das Wohnzimmer. Sie waren gekleidet in der Mode des frühen 21. Jahrhunderts, die elegante arkonidische Einflüsse aufgenommen hatte und trotzdem pragmatisch terranisch geblieben war.
»Sieh nur Perry, es sind Cora und Deborah!«, rief Thora fröhlich.
Die beiden Kinder umarmten Rhodan stürmisch, verpassten seinen Wangen jeweils einen dicken Kuss.

Stampfende Schritte wurden hörbar, begleitet von einem Schnaufen, das einer alternden Dampflok des frühen Industriezeitalters alle Ehre gemacht hätte. Ein borstiger, schlohweißer Haarschopf erschien. Dicke, geäderte Wangen schoben einen mächtigen, roten und an den Mundwinkeln tief heruntergezogenen Oberlippenbart nach vorn. Darunter verbarg eine Uniform der Solaren Flotte nur mit Mühen vom Halsansatz bis zur Gürtelschnalle einen massiven Bauch. Der Mann war Rhodans ältester, bester Freund, Reginald Bull.
»Perry! Altes Haus. Und Thora, meine Liebe! Sie sehen hervorragend aus«, prustete Bully.
Bevor ihm jemand antworten konnte – Cora und Deborah hatten Bull bereits auf ihre Weise begrüßt, sie hielten seine mächtigen Oberschenkel umklammert, fixierten ihn so an Ort und Stelle und lachten fröhlich – berichtete er: »Perry, es ist gerade über Hyperfunk durchgekommen. Heute, am 8. Juni 2021, Erdzeit! Ronald, Atlan und Gucky hatten auf Arkon III Erfolg. Sie haben den Robotregenten durch reinste Logik überzeugt! Er hat die Macht des Arkon-Imperiums an Atlan übergeben.«
Rhodan hatte ein flaues Gefühl im Bauch, als er den Freund unsicher fragte: »Ronald?«
Gerade noch tätschelte Bull die Köpfe der kichernden Mädchen, schon warf er die Hände entgeistert hoch.
»Alter«, rief Bull mit seiner voluminösen Stimme. »Dein Sohn! Ronald Rhodan! Benannt nach dem Präsidenten, der die Eingliederung der USA in die Terranische Regierung auf den Weg gebracht hat. Weißt du nicht mehr? Es ist ein neuer Morgen angebrochen, nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Erde. Warum sollten wir dorthin zurückkehren, wo wir vor vier Jahren gewesen sind, wenn vor uns der Weltraum liegt? Das wirst du doch nicht vergessen haben?«
Der dicke Mann prustete belustigt los. Thora und die Kinder schlossen sich mit glockenhellem Lachen an.
Fassungslos nahm Rhodan die Szene wahr. Dann schwand das vertraute und zugleich fremde Bild vor seinen Augen, als hätte es jemand mit Gewalt weggezogen. Graue Muster waberten vor seinem Blickfeld und klärten sich am …

19. Juni 2971

Rhodan war sofort wach und es tat ihm alles weh, als er um sich blickte. Er hätte nicht auf Anhieb sagen können, wo er sich befand. Mit dem Rücken lehnte er an einer Wand. Gerüche von altem Raumschiffsöl und beißendem Reinigungsschaum stiegen in seine Nase. War das ein abgewrackter Raumhafen auf irgendeinem Hinterwäldlerplaneten am Rand einer vergessenen Galaxie?
Sein Arm lag in einer Schlinge und schmerzte pochend, die Rippen taten ihm ebenfalls weh, als habe ihn ein Pferd getreten. Eine Prellung, schätzte er. Mit der Zunge konnte er fühlen, dass ihm ein Zahn fehlte, gleichzeitig brandete stechender Schmerz zwischen Jochbein und Kinn auf.
Das Licht waberte, als schwanke die untergehende Sonne knapp über dem Horizont. Ein Schatten wuchs in die Länge, verdunkelte das Sonnenlicht. Eine schlanke, menschliche Figur schälte sich aus dem Schatten heraus. Rechts und links hielt sie Gegenstände, durch die das Licht gloste und goldene Funken warf.
Rhodan kniff die Augen zusammen und erkannte Atlan. Ihm fehlte ein Raumfahrerstiefel, das Hosenbein war aufgerissen, ein Ärmel der USO-Uniform bestand nur noch aus Fetzen. Auf seinem Kopf saß eine schulterlange Minipli-Frisur mit spektakulärem Pony. Seine roten Arkonidenaugen verbarg eine Sonnenbrille. In seinen Händen hielt er je eine Bierflasche, eine davon unmittelbar vor Rhodans Nase.
»So etwas haben wir noch nie hinbekommen. Und nun sitzen wir hier fest«, spottete der Arkonide und setzte sich neben den Terraner.
Rhodan entgegnete scharf: »Vielleicht hättest du diesmal einfach still sein sollen, Atlan.«
Mit einem Klirren setzte der Lordadmiral die Bierflaschen ab. »Sag mir hier und jetzt, dass ich nicht recht hatte!«
»Du hast gesagt, ein Gesicht wie Aphrodite und ein Körper wie Herkules – und das war eindeutig ein Fehler.«
Atlan schmunzelte. »Ich kannte sie beide. Soll ich …«
»Nein!«, rief Rhodan energisch. »Keine Geschichtsstunde!« Und etwas leiser: »Du kannst doch nicht zu einer Überschweren so etwas sagen!«
»Einer Überschwerin, bitte, Herr Großadministrator«, stellte der Lordadmiral knapp fest. »Es konnte ja keiner ahnen, dass die Piratenprinzessin von Punta-Pono Ahnung von frühterranischer Geschichte hatte.«
»Sie hat uns verprügelt, hinausgeworfen und nun sind wir deinetwegen hier«, gab Rhodan zurück.
»Immerhin konnte ich zwei Flaschen Bier für uns in der Raumhafenkneipe auftreiben«, erklärte der Arkonide.

Rhodan wollte nach einer der Flaschen greifen, als Atlan rabiat seine Hand beiseite schob.
»Nicht so eilig, mein barbarischer Freund. Jetzt pass mal auf!«
Atlan nahm die Kette mit dem Zellaktivator vom Hals. Er packte mit dem lebensspendenden Gerät in der Hand den Flaschenhals und hielt beide fest. Mit der anderen Hand nahm er die Kette und zog mit einem plötzlichen Ruck daran. Der Kronkorken sprang geräuschvoll ab.
Rhodan blickte Atlan fassungslos an.
»Was denn?«, rief der Arkonide. »Hast du etwa einen Flaschenöffner dabei?«
Er händigte dem Terraner das Bier aus, bevor er die zweite Flasche öffnete.
»Ist das nicht ein wenig respektlos?«, fragte Rhodan vorsichtig.
»Ach was«, antwortete Atlan. »Hat ES uns nicht erst in diese Lage gebracht?«
Sie stießen an und jeder trank einen tiefen Schluck.
»Auf deinen Geburtstag, Perry!«

Entlang der Wand auf dem verlassenen Raumhafen im Nirgendwo der Galaxis tanzte das satte Licht der untergehenden Sonne. Das Bild wurde durch wirre Erinnerungen überlagert, die Rhodan durch den Kopf schwirrten. Er war mit Doktor Fleeps allein im Ruheraum in Nevada Fields. Bully und die anderen waren bereits mit der STARDUST unterwegs zum Mond. Dann war er zusammen mit Thora in einem Bungalow am Goshun-Salzsee. Er war ein alter Mann und saß in einem Rollstuhl, von Enkelkindern umringt. In beiden Fällen waren es ihm fremde Entscheidungen gewesen, die den bekannten Zeitablauf geändert hatten. Wie absurd!
Nachdenklich blickte Rhodan seinen Freund an. »Mein Geburtstag?«
»Sag nur, dass du das vergessen hast. Aber von mir aus, schließlich bin ich derjenige von uns beiden, der ein fotografisches Gedächtnis hat. Ja, es ist der 19. Juni. Dein Raumfahrergeburtstag. Der Beginn deines Abenteuers. Also, alles Gute, alter Freund.«
Atlans Bierflasche klirrte, als sie gegen Rhodans stieß.
Der Terraner grübelte. »Irgendwann spielt das doch keine Rolle mehr. Wir erleben ständig irgendwelche Abenteuer, da führe ich auch nicht Buch darüber, wie viele es waren.«
»Nun«, parierte Atlan, »das ist eine Sichtweise.«
»Hast du eine andere parat?«
»Wie wäre es mit einer vorausschauenden Deutung der Lage, in etwa so: Jede Woche ein neues Abenteuer!« Atlan richtete sich stolz auf. »Wie findest du das?«
Rhodan schmunzelte. »Okay, alter Admiral.« Mit einem Zug leerte er das Bier, stellte die Flasche ab und erhob sich. »Dann lass uns gleich ein Raumschiff suchen und losfliegen«, forderte er Atlan auf und blickte auf seine unverwechselbare Weise in den fernen Himmel über dem Raumhafen.

Vom Landefeld hoben Raumschiffe mit donnernden Triebwerken ab. Das tiefe Grollen war Rhodan und Atlan so sehr vertraut, als wäre es etwas Selbstverständliches, ein natürliches Hintergrundgeräusch ihres langen Lebens. Etwas anderes schwang aber in dem Brüllen der Impulstriebwerke mit, etwas, das den beiden Raumfahrern ebenfalls vertraut war. Und kaum hatten sie diesen Gedanken ausgesprochen, da brach das homerische Gelächter der Superintelligenz ES über sie herein, begleitet vom brandenden Applaus von Milliarden und Abermilliarden von mentalen Beobachtern, bestens unterhalten und begierig auf weitere, immer neue Abenteuer – manche multiversal abgezweigt, entlang selten besuchter Zeitebenen, andere streng geradeaus und mit Blick nach vorn, in eine ungewisse, aber dafür abenteuerliche und abenteuerlich ferne Zukunft.

ENDE

3 Gedanken zu „»Welcher Geburtstag eigentlich?« von Mark Kammerbauer“

  1. Man erfährt doch immer wieder etwas Neues.
    ES und andere Charaktere haben schon lange vor Rhodans Mondflug immer wieder mal lenkend eingegriffen. Die Expokraten lenken ihn wie eine Marionette. Da fragt man sich, ob Perry überhaupt einen freien Willen hat. Ob er wohl aus eigenem Antrieb die Antwort auf die dritte ultimate Frage abgelehnt hat?
    Wie dem auch sei, für Altleser sind solche Anspielungen immer amüsant.

    1. Dazu fallen mir zwei Dinge ein:
      Erstens: Romanfiguren haben bisweilen mehr freien Willen, als es den Autoren lieb ist. Sagt meine Erfahrung als Autor.
      Zweitens: Sind wir nicht alle Romanfiguren in der großen Geschichte des Universums?
      Drittens: 42.

Schreibe einen Kommentar zu Thomas Seidel Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Die Perry Rhodan Online Gemeinschaft