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»Spiegelparadies« von Eva Waiblinger

»Orbit um Eden erreicht, herzallerliebstes Biberchen«, flötete Pi, die Positronik. »Könnte es sein, diesmal, das Paradies.«

»Oder die Hölle.« Armand Bièvre, Exobiologe, studierte die smaragdene Kugel des Planeten, die auf dem 3D-Panoramaschirm vor den Schlieren der Milchstraße hing, tippte sie an und versetzte das Holo damit ins Pendeln. Planetenpingpong.

»Es muss einen Haken geben. Hat es immer.« Bièvres Wurstfinger tanzten ihren Walrosstanz auf dem holografischen Display.

Daten der Sensoren regneten die gestaffelten Holoschirme herunter. Pi kommentierte sie mit honigsüßer Stimme: »Hier sind die Parameter, Schatzilein, nur für dich allein.« Für wen denn sonst? Es war außer ihm niemand in der Zentrale. Mit einem Singsang, den sie nur bei ihren Passagieren in den Hangars abgekupfert haben konnte, betete Pi herunter: »Null Komma neun null g, Rotationsdauer sechsundzwanzig Komma fünf Standardstunden, Sauerstoff-Stickstoff-Atmosphäre zwanzig zu achtzig, Leben kohlenstoffbasiert, kuschelige Vegetationsdecke, ferienmildes Klima. Ganz exzellente Daten, mein Nasenbär.«

Bièvre hob erstaunt die Brauen. Nasua nasua. Das war neu. Auch ein Systemneustart hatte die Schrullen der Positronik nicht eliminieren können, deshalb hatten ihre Passagiere damals das Raumschiff zum Spottpreis erwerben können. Bièvre war das egal. Eigentlich ganz angenehm, wie Pi ihn anhimmelte. Immerhin waren sie nun schon seit sechzig Jahren zusammen unterwegs.

»Ich geh das vor Ort abklären, schließlich wollte uns die Vegetation des letzten Planeten auf ihren Speisezettel setzen.« Er wuchtete seine Masse aus dem Pneumosessel. Sechzig Jahre hatten auch bei ihm Spuren hinterlassen. »Bitte lass es diesmal der Planet sein. Ich habe die Nasenbärennase gestrichen voll davon, unsere menschliche Fracht Woche für Woche durch die Galaxien zu chauffieren.«

Anfangs hatte ja alles nach einem einfachen Job ausgesehen: Diese Anti-Techno-Sektierer wollten einfach nur weg von Terra, irgendwohin, wo es keinen Perry Rhodan gab. Keine endlosen Space Operas, bei denen man dauernd an Klippen hängen gelassen wurde. Keine galaktischen Schlachtfelder, die seit Jahrtausenden mit entbehrlichen Statisten gepflastert wurden, während die Big Five überlebten. Vor allem aber irgendwohin, wo es keinen Gucky gab. Sie wünschten sich einfach nur einen friedlichen, mausbiber- und heftserienfreien Planeten. Im Gehen schaltete Bièvre alle Stationen auf Automatik. »Zillionen Planeten haben wir untersucht, und keiner entsprach der Vision von Paradies, die denen vorschwebt.«

»Um exakt zu sein, Knuffelbär, haben wir genau 260 neue Systeme angeflogen und 3134 Planeten in der habitablen Zone untersucht«, korrigierte Pi.

Bièvre knurrte und drückte den Öffner des Zentraleschotts. Nichts geschah. Wie des Öfteren in letzter Zeit. Auch das Schiff zeigte langsam Ermüdungserscheinungen. Er schlug mit der Faust auf den Knopf. Er zersplitterte. »Jetzt mach die verdammte Tür auf, Pi!«

»Nicht fluchen, Cookie, das treibt nur deinen Blutdruck in die Höhe. Ich schick gleich einen Reparaturroboter los.«

»So von denen noch einer funktioniert. Ich nehm die Nottreppe.« Wenn das so weiterging, würde er noch so schlank wie ein Marathonläufer.

Im Runtersteigen murmelte er: »Wenn es dieser Planet nicht tut, dann öffne ich die Hangartore und lasse die Pilger ihr Paradies im absoluten Vakuum suchen.«

»Das war politisch höchst unkorrekt, Schnuffelchen«, sagte Pi.

»Schön, dann setze ich sie eben auf einem Discountferienplaneten ab.«

*

Bièvre lehnte sich im Kommandosessel der Space-Jet zurück und schaute durch die transparente Kuppel hoch zur Fünfhundert-Meter-Stahlkugel des Ex-Explorer-Schiffes, die in der Schwärze des Alls hing, die Außenhülle vielfach geflickt und stumpf geworden von all dem Staub im kosmischen Hinterland, durch das sie seit Jahrzehnten kurvten. Bièvre glaubte den Staub mittlerweile sogar zwischen seinen Zähnen knirschen zu hören. Er überließ die Steuerung des Beibootes den fähigen Schaltkreisen Pis. Als das Mutterschiff über ihm zurückfiel, betrachtete er den Ringwulst und tätschelte die äquivalenten Fettrollen um seine eigene Körpermitte. Nach dem Kauf des Schiffes hatten die Sektenmitglieder über dem Wulst in Rot die Lettern EXODUS aufgemalt und die ursprüngliche Seriennummer EX-31415 überdeckt. Ein Jammer!

*

»Eintritt in die Atmosphäre … jetzt«, schnurrte Pi. »Hast du dir schon einen Namen für den Planeten ausgedacht, Armand, mon chéri?«

»Na klar«, murmelte Bièvre. »Eden Nummer Dreitausendeinhundertvierunddreißig. Merke schon mal vor, den Planeten in Gescheitertes Eden umzubenennen, identische Nummer.«

Der Planet breitete sich unter ihnen aus, ein sattgrüner Teppich durchzogen von einem Seenlabyrinth, wie die Wälder des alten Finnland zuhause auf Terra, bloß auf Planetengröße aufgebläht. Bièvre hoffte, dass der Planet dazu nicht die passende Armee Mücken mitlieferte, Anopheles maculipennis, Culex pipiens, Aedes aegypti und stechfreudige Anverwandte, womöglich von der Größe eines Gleiters. Alles schon gehabt.

Das Beiboot landete auf einer Lichtung. Bièvre zog den Raumanzug über, XXL, und schloss den Helm. Er wollte nichts riskieren. Man wusste nie, was solche Wälder an toxischen, stechwütigen oder gefräßigen Überraschungen bereithielten. Er nahm fünf Arbeitsroboter mit in den Wald, um Proben zu sammeln, dankbar für die Gelegenheit, sich mal wieder auf festem Boden die Füße zu vertreten. Die geringere Schwerkraft ließ ihn beschwingt ausschreiten. Es war ein bisschen, als ob er ein Bierchen zu viel gekippt hätte.

Der Wald glich aus der Nähe weniger dem Finnlands als den Redwood Forests an der Westküste Nordamerikas, Sequoia sempervirens. Die Unsterblichen. Ha. Die waren wenigstens sicher verwurzelt und trieben sich nicht in der ganzen Galaxis herum. Wie die Säulen einer Kathedrale strebten die hundert Meter hohen Stämme in die Höhe, so dick, dass sie zehn Menschen kaum umfassen mochten. Jedenfalls keine zehn Bièvres – seine Wampe stand dem im Weg. Die violette Rinde blätterte in Fetzen ab und bedeckte als federnde Matratze den Waldboden. Die Riesenbäume produzierten massenweise pinkfarbene Früchte, die aussahen, als ob eine Sternfrucht, Avarrhoa carambola, mit einem American Football fremdgegangen wäre. Bièvre sammelte Proben davon, aber auch von Luft, Wasser, Erde, Gesteinen, Rinde, Blättern, Nüssen, und fütterte das alles den Robots zur Analyse. Der Planet musste einer detaillierten Prüfung unterzogen werden. Wie alle 3133 davor.

*

Der Planet schnitt gut ab, in Physik genauso wie in Chemie und Biologie. Keine Toxine, vermeldete Pi leicht blechern aus dem Lautsprecher eines der Robots. Keine Umweltverschmutzung. Schwermetalle tief in der Planetenkruste verpackt. Süßwasser zum Abwinken. Mückenfrei. Üppige Vegetation, strikt vegan. Artiges Tierleben, Typ Knuddelbär, ohne Klauen oder Reißzähne. Vielleicht war’s diesmal wirklich der Planet. Das Paradies, das aufzutreiben die technomüden Pilger ihn angeheuert hatten. Pis scheppernde Stimme aus dem Robot kippte fast vor Begeisterung: »Alle Spezifikationen erfüllt, die meisten übertroffen, mein Biobär. Es scheint, unsere Suche ist zu Ende! Hier, iss, und dann kuscheln wir uns unter dem Baum da, herzallerliebster Knutschetiger!«

Bièvre seufzte, klappte den Helm zurück und nahm dem Roboter die angebotene Frucht ab.

»Diese Frucht ist ernährungsphysiologisch äußerst wertvoll«, deklarierte Pi. »Enthält alle für Menschen, Homo sapiens sapiens, essenziellen Aminosäuren, Fette, Mineralien, Vitamine, et cetera, et cetera, damit du auch groß und stark wirst, Krümelmonsterchen.« Analyseresultate, das war ihre Form der Anmache.

Der Roboter gab Bièvre einen Klaps auf den Hintern und kassierte dafür einen Tritt, der ihn einige Meter weit in einen Laubhaufen beförderte, von wo er sich aber sofort wieder aufrappelte und zu Bièvre zurückschwebte.

Wenn Bièvre in Ruhe essen wollte, gab’s nur eins: »Hochwohlverehrte Pi, tu mir den Gefallen und berechne die Zahl Pi bis zur letzten Stelle!«

»Aber gerne, mein Märchenprinz, mein Adam, Armand, mein Alles. Drei Komma eins vier eins fünf neun zwei sechs fünf drei fünf …«

Bièvre ließ den Roboter stehen, wie der so seine Kommastellen runterrasselte, und biss in die Frucht. Tatsächlich ein Paradiesapfel, weich und reif, so dass ihm der blaue Saft das Kinn runter troff. Jeder Biss löste ein kulinarisches Feuerwerk auf seinen Geschmacksknospen aus, machte es Bièvre aber unmöglich, den Geschmack genau zu definieren, da er zu stark fluktuierte. Er changierte von arkonidischer Stinkwurz zur Durian, schlug um zu Röstzwiebeln und ertrusischem Rumpsteak, medium-rare, mit würzigen Muurt-Noten und elektrisch-prickelnden Kriechmais-Obertönen und endete mit einem fulminanten Abgang in weiß-schwarzer Tobleronemousse. Wenn Bièvre sich konzentrierte, konnte er der Frucht sogar den Geschmack von Rosenkohl und Meerrettich verleihen, Brassica oleracea var, gemmifera und Armoracia rusticana. In Ermangelung eines besseren Namens nannte er sie »All-Frucht«, den Baum dazu wissenschaftlich Lignum scientiae castorii. Zur Hölle mit der Konvention, dass ein Forscher keine neue Art nach sich selbst benannte. Er hatte sich das jetzt verdient. Jawohl.

*

Zurück auf der EXODUS überprüfte er die Resultate noch einmal, zweimal, dreimal. Pedanterie zahlte sich auf diesem Rostkahn aus, gerade wegen Pis Macken und der zahlreichen Ausfälle. Doch dann, endlich, war er sich sicher. Das war der Planet. Nach sechzig Jahren am Ziel.

»Heureka. Öffne einen Kanal, Pi!«

Pi unterbrach ihre Rezitation der Zahl Pi. »Das bordinterne Kommunikationssystem ist defekt.« Sie klang ziemlich kleinlaut. »Du musst schon persönlich da runter und ihnen die frohe Botschaft überbringen.«

»Ich? Ich bin doch kein Himmelsbote. Sieh, keine Flügel. Jetzt mal echt, hier ist doch alles schrottreif.«

»Das wüsste ich aber«, fauchte Pi.

»Ist doch wahr. Wenn wir die Sektierer mal abgeladen haben, müssen wir uns wohl nach Terra zurückschleppen lassen.«

Plötzlich war Pi wieder ganz Positronik. »Wahrscheinlichkeit für erfolgreiche Heimkehr nach Terra: neununddreißig Komma drei sieben zwei neun sechs Prozent. Reparaturen im Gang.« Es tönte allerdings immer noch leicht pikiert.

Bièvre schlurfte zum nächsten Antigravitationsschacht. Bei dem blinkte gleich wieder eine Warnung auf: »Außer Betrieb! Lebensgefahr!«

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»War das jetzt ein Witz, Arm-and, mein Engel? Ich liebe Witze«, flötete Pi.

»Du verstehst Witze nicht, Pi.«

»Das Antigravitationsaggregat im Schacht ist aber tatsächlich defekt. Und da meine Sensoren anzeigen, dass weder deine Anatomie noch deine Genetik für die Ausbildung von Flügeln oder Telekinese angelegt sind, schlage ich vor, dass du einen anderen Weg nach unten wählst. Ich begleite dich, Schatzi. Nur wir zwei, mein Biberchen.«

»Vielen herzlichen Dank, meine liebe Pi, das ist zu gütig.«

Ironie verstand die Schiffsintelligenz ebenso wenig.

Ächzend quetschte Bièvre seine Körpermasse in den Reparaturschacht, der die Decks miteinander verband, und kletterte die Sprossenleiter hinunter, was ihn sicher zwei Liter Schweiß und eine ganze Datenbank an Flüchen kostete, bis er die unteren Decks erreichte, wo die Pilger campierten. Ihr Geruch schwappte ihm entgegen, als er aus dem Schacht trat, ein beißendes Amalgam aus ungewaschenem Mensch, Haustiermist, Frittieröl und religiösem Eifer. Um den Gestank wieder aus dem Schiff zu kriegen, würde er mit geöffneten Luken durch den Ozean einer Wasserwelt fliegen müssen. Bièvre drückte die Kontrollfläche des Schotts zum Haupthangar. Mit einem Zischen fuhr die Tür in die Wand zurück.

Ein grauenhaftes Geheul ließ ihn zurückweichen. Die Pilger nannten das Beten. Ihr technologie-unaffiner Gott musste zudem ziemlich taub sein. Bièvre biss die Zähne zusammen, dass es im Kiefer knackte, und trat ein, pflügte durch Massen von Leibern. Die Pilger trugen Gewänder in so schreienden Farben, dass seine Augen schmerzten. Er schaffte es, bis zum Guru der Sekte vorzudringen, einem Männlein so knorrig wie eine Föhre, Pinus silvestris, in der Kampfzone der Baumgrenze. Der Guru vollführte auf Bièvres Nachricht hin einen Freudentanz, als ob er auf glühenden Kohlen stünde. Dann ging alles sehr schnell. Während Pi die EXODUS auf dem Planeten landete, gab der Guru den Befehl durch, alles zusammenzupacken. In Windeseile bündelten die Sektenmitglieder ihre Besitztümer, nahmen Kinder, Ziegen, Capra aegagrus, und Hühner, Gallus domesticus, an die Hand. Sie hatten wohl auch langsam genug von ihrer Odyssee auf der Suche nach dem gelobten Land. Sobald die EXODUS auf ihren Landetellern aufgesetzt, den Antrieb heruntergefahren, die untere Schleuse geöffnet und die Rampe ausgefahren hatte, quollen die Pilger aus dem Schiff.

*

Zurück auf der Brücke nach einem schweißtreibenden Aufstieg beobachtete Bièvre den vielfarbigen Exodus. Er machte sich einen Spaß daraus, die Kinder und die schwangeren Frauen zu zählen. Die Sektenmitglieder hatten sich die lange Zeit auf dem Flug offenbar nicht nur mit Beten vertrieben, da waren ganze Generationen im Schiffsrumpf herangewachsen. Die Pilger sangen und skandierten, nahm Bièvre wegen der offenen Münder und verzückten Gesichter zumindest an. Den Ton hatte er schon lange abgeschaltet, um seine Ohren zu schonen. Die Pilger fielen auf die Knie, küssten den caramelbraunen Dreck, das violettpinke Laub, das lindgrüne Unkraut, sie reckten ihre nackten Arme in den zartrosa Himmel, warfen ihre quietschbunte Kleidung von sich und stürzten sich nackt in die eiskalten Seen, um sich darin zu tummeln wie Seehunde, Phoca vitulina, in der Brandung.

*

Bièvre richtete sich ein, noch einen weiteren Monat hierzubleiben, während die Pilger in ihrem brandneuen Paradies Wurzeln schlugen. Der Vertrag mit der Sekte sah vor, dass die EX-31415 dann in seinen Besitz überging. Toll, eine Rostbenne mit durchgeknallter mathematischer Konstante am Steuer, als Lohn für sechzig Jahre Treue … Die Pilger wollten jedenfalls nichts mehr behalten von dem technischen Tand, wollten sich lossagen von Terra, überhaupt von der Technologie, und zum simplen, natürlichen Leben zurückfinden, wo einem die Positroniken nicht auch noch das Denken abnahmen, wo es noch etwas galt, im Schweiße der Füße der Scholle eine Knolle abzuringen, sowas in der Art. Jeder nach seiner Façon, fand Bièvre. Sollten die Pilger doch ihr Brett vor dem Kopf in ihr Paradies mitnehmen. Er jedenfalls würde so schnell wie möglich zurückkehren in die Zivilisation und endlich wieder deren Annehmlichkeiten genießen, sich erst mal kräftig mit Vurguzz volllaufen lassen und in Terrania auf den Putz hauen. Dann hieß es herausfinden, wer sich in der Milchstraße gerade so zum Platzhirsch hochrempelte und welche Superintelligenzen en vogue waren, generell, was da halt so abging.

*

Zwei Wochen nach Ankunft im Paradies traten die ersten Symptome auf. Die Babys wollten nicht mehr aufhören zu schreien und übertönten sogar das Gedröhn der Gebete. Wie Ballone wölbten sich die Babybäuche. Kinder klagten über Hunger, selbst wenn sie sich gerade mit All-Frucht und Nüssen vollgestopft hatten. Das Haar der Frauen verlor seinen Glanz, ihre Schritte die Elastizität, ihre Haut erschlaffte und trocknete aus. Der Guru bat Bièvre, die Umwelttests noch einmal durchzuführen, über alle Fachgebiete hinweg. Bièvre überprüfte, ob um den Planeten herum irgendwelche kuriosen hyperphysikalischen Phänomene auftraten, Verwerfungen von Zeit, Gravitation, Dimensionen, irgendwas, was er selbst nicht wirklich verstand. Nada. Gleiches Resultat wie zig Mal zuvor. Der Planet, seine Wälder und die All-Früchte waren so sicher, wie es die Instrumente des Explorerschiffes nur messen konnten.

Dann starb das erste Baby. So sehr sich Bièvre Pi gegenüber das Maul über die Pilger zerrissen hatte wegen ihrer völlig überdrehten Anforderungen an ihr Paradies, so häufig er daran gedacht hatte, sie irgendwo auf einem Hinterwäldlerplaneten zu deponieren, nachdem sie wieder mal einen Planeten als ungeeignet abgeschmettert hatten, so sehr schmerzte ihn dieser Verlust. Diese Menschen standen in seiner Verantwortung. Sie hatten ihn angeheuert, um ihren Traum wahr werden zu lassen. Und jetzt zerbröselte dieser Traum, und er wusste nicht weshalb. Das verletzte seinen Berufsstolz. Die Autopsie des Kindes ergab, dass es an Unterernährung und einem Mangel an essenziellen Nährstoffen gestorben war. Es war kein Gramm Fett mehr in dem kleinen Körper, auch die Muskeln waren größtenteils abgebaut. Wie konnte das sein? Das kleine Mädchen war mit vollem Bauch verhungert. Und das Sterben hatte erst gerade begonnen.

*

Bièvre starrte auf die melonengroße All-Frucht auf dem Labortisch. Die pinke Oberfläche wies wie bei einer Zwetschge einen weißlichen Reifehauch auf. »Was ist dein Geheimnis?«

»Es gibt kein Geheimnis«, widersprach Pi. »Willst du die Analyseresultate nochmals anschauen, mein Brummbär?«

Bièvre reagierte nicht auf den dienstbeflissenen Geist der EX-31415. Er hatte gelernt, Pi auszublenden, wenn er Ruhe zum Denken brauchte. Ebenso ignorierte er das blinkende Licht am reparierten Kommunikationsgerät. Der Guru. Wenn der das Kom benutzte, dann lag wirklich alles im Argen. Stattdessen ließ Bièvre seine Gedanken wandern.

Warum hatte eigentlich er keine Mangelerscheinungen? Sein Blick fiel auf den Konzentratriegel, der neben der All-Frucht lag, Verpackung aufgerissen, sonst aber unberührt. Junkfood von der Erde. Sechzig Jahre alt, längst abgelaufen, schmeckte wie Karton, aber hey, auf terranische Qualität war eben Verlass! Das Ding enthielt alle Nährstoffe und Vitamine, voll ausgewogen, drum so scheußlich. Bièvre verspürte aber sowieso keinen Hunger mehr, seit er dieses erste Baby hatte aufschneiden müssen. Daran würde er wohl für den Rest seines Lebens zu kauen haben. Zum ersten Mal bedauerte er, nicht Hyperphysik studiert zu haben. Keine Autopsien bei toten Sternen.

»Der Haken«, murmelte er. »Die Sache hat immer einen Haken.«

Er hatte meist in der automatisierten Schiffskombüse gegessen, welche die Mahlzeiten molekular aus den Vorräten des Schiffes zusammenbastelte, aus rohen Kohlenhydratbausteinen, Aminosäuren und Fetten, gewürzt mit Vitaminen und Mineralstoffen. Die Pilger dagegen hatten nur das gegessen, was ihnen ihr Garten Eden bot, und alles abgelehnt, was nach Technologie und dem alten Mief von zuhause roch, vor dem sie doch geflohen waren.

»Pi, warum bestehst du immer noch drauf, dass diese ›Super-All-Frucht alle Nährstoffe in ausgewogenem Verhältnis‹ enthält …«, Bièvre äffte Pis Tonfall nach, »… und die Leute bekommen trotzdem nicht, was sie brauchen? Kannst du mir das sagen, Pi?«

»I do not compute«, sagte Pi kleinlaut, die wie immer auf Werkseinstellung zurückfiel, wenn sie nicht weiterwusste.

»Ja gibt es das denn, etwas, was du nicht weißt? Pi, da draußen sterben Menschen. Wir müssen was tun.«

»Was möchtest du denn, dass ich für dich tue, Love?« Zurück zu ihrem dienstfertigen Selbst.

»Zermantsche diese verdammte Frucht und mache all die Tests nochmal, und nochmal, und nochmal, bis wir herausfinden, was damit nicht stimmt!«

Er riss einen Latexhandschuh aus dem Dispenser und wollte ihn gerade über seine Hand stülpen, als er erstarrte. Der Gummidaumen hing schlaff herunter. Er hatte versucht, sich den Handschuh falsch herum überzustreifen. Langsam zog er den Handschuh wieder ab. Er gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Bièvre nahm einen zweiten und legte sie so nebeneinander, dass beide Daumen nach rechts zeigten.

»Ich fass es nicht«, flüsterte Bièvre. »Ich fass es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist ja so simpel. So höllisch simpel. Und ich hab nicht dran gedacht.«

Er lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen.

»Bist du müde, Honigküchlein? Ich kann das Licht dimmen. Klassische Musik einspielen.«

»Mach dich nicht lächerlich.« Bièvre war zu erschöpft, um mit Pi zu argumentieren. »Schick die Proben durchs Polarimeter. Wir haben doch eins an Bord, oder?«

»Ja, ist sogar intakt.«

»Gut, dann sag mir, in welche Richtung die Proben die Ebene polarisierten Lichtes drehen.«

Pi surrte für eine Weile, während sie die Tests durchführte. Die Kapazität der alten Positronik für Multitasking reichte nicht für komplexe Analysen und gleichzeitig noch für Smalltalk, was ihm etwas Ruhe bescherte.

»Resultate liegen vor, mein strammer Junge«, hauchte eine Stimme direkt an seinem Ohr. Bièvre fuhr zusammen. Manchmal vergaß er, dass Pi gerichtete Audiofelder projizieren konnte.

»Spuck’s aus!«

Säuselnd informierte ihn Pi über das Folgende: alle Zuckermoleküle in den Proben waren rechtsdrehend, D wie Dexter, alle Aminosäuren linksdrehend, L wie Laevo. Wie es sein sollte. Bis auf eine: Methionin. Die Aminosäure am Anfang jeder Proteinkette.

»Ich fass es nicht«, wiederholte Bièvre. Er erhob sich, wendete einen der Handschuhe, so dass die Daumen nun gegeneinander zeigten.

»Pi, mach die Hangars bereit. Wir laden die Pilger wieder ein. Dann verschwinden wir von hier.«

»Aber warum, Süßer? Nur wegen einer verkehrten Aminosäure? Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Dir fehlt eben der Funke des Genies. Mach schon.«

»Stets zu Diensten, mein liebster Sahneklecks.«

*

»Unser Paradies ist also doch eine Hölle. Aber warum?«

Bièvre saß im Kommandosessel, der Guru stand neben ihm, reichte aber kaum über die Armlehne hinaus. Es kam selten vor, dass sich der Alte in die Zentrale bequemte.

»Ja, genau, warum?«, doppelte Pi nach. »Selbst mir hat er es noch nicht verraten, der Obernagerkommandant.« War Pi etwa beleidigt?

Gemeinsam verfolgten sie über die Außenbeobachtung, wie die Pilger sich zurück in den Bauch des Schiffes schleppten, vornüber gebeugte Gestalten mit ausgezehrten Gesichtern, ihre bunte Farbpalette zu einem schmutzigen Grau verwaschen. Geknickt. Alle Hoffnung zerstört.

»Alles auf diesem Planeten ist in Ordnung. Bis auf eine winzige Kleinigkeit.« Bièvre studierte von der Seite das zerfurchte Gesicht des alten Mannes. Ob sein Nervenkostüm stabil genug war für einen Fachvortrag?

Der Alte nickte weise und abgeklärt, was Bièvre als Aufforderung verstand. Er legte los, froh darum, dass sein Publikum um hundert Prozent angewachsen war. »Aminosäuren, also das sind die Bausteine von Proteinen, gibt’s in zwei Varianten, von der Struktur her Spiegelbilder voneinander, wie zwei Hände, aber sonst mit identischen chemischen und physikalischen Eigenschaften. Die Lebewesen auf Terra haben sich in ihrer Stammesgeschichte für eine Version davon entschieden. All-Frucht, wissenschaftlich Lignum scientiae castorii übrigens, benannt nach meiner bescheidenen Wenigkeit, enthält alle Aminosäuren in der korrekten Form, außer einer, Methionin, die ist verkehrt herum gebaut. Und das ist ausgerechnet die, die am Anfang jeder Eiweißkette sitzt. Der menschliche Organismus kann darum das Eiweiß auf diesem Planeten schlicht nicht verwerten. Ihr müsstet mit vollem Bauch verhungern, wenn euch hier zurückließe.« Ein bisschen so, wie wenn man ein Sechzigjahresabo einer Raketenheftchenserie abonniert hätte und feststellen müsste, dass bei jedem einzelnen Heft die Seiten komplett verklebt wären.

»Also liegt die Hölle im Detail.«

»Yep. Und das da«, Bièvre balancierte die letzte All-Frucht auf der Hand. »Das ist der Apfel, der euch aus dem Paradies vertreibt.«

Der Alte seufzte ergeben. »Dann fliegen wir also los, sobald alle wieder im Hangar sind, um das nächste Sonnensystem und den nächsten Planetenkandidaten zu finden.«

Bièvre biss sich auf die Unterlippe. Sollte er es wagen? Ja, er musste es wagen. So durfte es nicht weitergehen. »Könnten wir nicht einfach zurück ins Solsystem fliegen? Vielleicht ist Terra ja unterdessen wieder zu dem Paradies geworden, nach dem ihr sucht.«

»Das hat was.« Der Alte kratzte sich am Kinn. »In 3687 Jahren ist sicher viel passiert.«

Bièvre atmete auf. Und verzichtete darauf, den Alten zu korrigieren. Der hatte wohl die Zeitrechnung nicht mehr so ganz im Griff. Allerdings: Erzählzeit, erzählte Zeit, reale Zeit, Zeitsprünge, wer kam da schon noch nach?

»Pi, programmiere den Kurs. Wir fliegen nach Hause!« Und vielleicht würde sich dort ein gewisser Perry Rhodan ja bereit erklären, die jüngeren Pilgergenerationen der EXODUS aka EX-31415 persönlich zu begrüßen. Wenn er denn noch lebte, woran Bièvre eigentlich nicht zweifelte. Der Kerl war so was von zäh! Die Pilgerkinder und Pilgerkindeskinder würden sehen, dass sich mit ihm ganz gut auch für weitere sechzig oder auch für weitere Dreitausendsechshundertsiebenundachtzig Jahre Abenteuer erleben ließen. Zufrieden warf Bièvre die All-Frucht in den Abfallverwerter, der ein leises Rülpsen von sich gab. »Tschuldigung«, sagte Pi. »Also mir schmeckt’s, mein Mäuschen, Bièvre-mon-amour! Trotz D-Methionin.«

2 Gedanken zu „»Spiegelparadies« von Eva Waiblinger“

  1. Grandioser Plot, grandiose Story. Man kriegt echt Mitleid mit den Pilgern. Diese Enttäuschung! Und schafft der Schrotthaufen es noch nach Terra? Hach, und das viele Latein! Karl von Linné wäre begeistert. Natürlich fragt man sich, wie die Evolution des Planeten es geschafft hat, neben all den korrekten L-Aminosäuren ausgerechnet diese eine verkehrtrum zu basteln. Das lässt ja fast auf einen schlampigen (oder gehässigen) Designer schließen. Aber das ist natürlich nicht Thema der Geschichte (… oder etwa doch eine versteckte Botschaft?).
    By the way, gibts von dir irgendwann noch eine Story über eine EX27182 mit einer Positronik namens E?

    1. Gute Idee, dann gäbe es auch noch eine EX161803 mit einer Positronik namens Phi (selbstverständlich alle Kabinen im Goldenen Schnitt gehalten!) und für die Chemiker eine EX60221023 mit einer Positronik namens Mol – für jeden Wissenschaftszweig ein eigenes Explorerschiff. Irgendjemand hatte mal die Idee, eine Kurzgeschichtenserie mit den Abenteuern von Explorerschiffen aufzuziehen, das wäre schon noch reizvoll, finde ich. Aber vielleicht dann doch ein bisschen zu sehr wie die gute alte, sprich die allererste, Enterprise in Star Trek.

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