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»Die Sternenpracht« von Tennessee

»Es ist wieder einer gestorben.«

Zemith nahm seinen Spieß mit der Hyserkeule und drehte ihn. Der Junge schaute noch immer in den abendlichen Himmel, dessen unerwartete Sternenpracht langsam verblasste. Wenn er nicht achtgab, würde sein Keulenstück verbrennen. Zemith war sich nicht sicher, ob er eingreifen oder dem Jungen eine praktische Lektion erteilen sollte. Schließlich gab er nach und griff nach dem Holzspieß des Jungen.

»Es ist wieder einer gestorben«, wiederholte er, als er das Fleischstück drehte.

Yet erschrak und Zemith konnte sehen, wie der Junge errötete. Wieder einmal hatte er nicht aufgepasst.

»Verzeihung, Vamu«, flüsterte er mit seiner hellen Stimme und wollte noch etwas hinzufügen. Aber Zemith unterbrach den Jungen: »Du musst besser auf deinen Hyser achtgeben. Wenn es verbrennt, kann es sein, dass du nichts zu essen hast. Und wenn du nichts zu essen hast …«

Zemith ließ das Ende offen und blickte stattdessen den Jungen ernst an.

»Ja, Vamu«, flüsterte dieser eingeschüchtert.

Es war nun schon die dritte Jagdzeit, die Zemith mit dem Jungen machte. Noch war dies üblich. Noch. Allerdings waren dieses Mal schon die ersten Jungen auf ihre eigene Jagdzeit gegangen. Yet würde noch etwas brauchen. Er war nicht geschickt. Dass sie heute den Hyser gefangen hatten, war eher Zufall gewesen als Können.

Zemith hatte dem Jungen gezeigt, wie man dem Hyser das Fell abzog. Dann hatte er das Tier geöffnet. Sie hatten Glück, sie verfügten noch über ein Strahlenmesser. Es befand sich seit vielen Generationen im Besitz der Familie. Andere Familien hatten dieses Werkzeug nicht mehr. Bei ihnen hatten die Messer einfach aufgehört zu funktionieren, doch Zemith hütete und pflegte sein Strahlenmesser. So wie sein Vater vor ihm, und dessen Vater vor ihm. Vor allem ging er achtsam mit der Schwarzscheibe um.

»Sie saugt das Sonnenlicht ein«, hatte sein Vater ihm erklärt, »und gibt es später als Strahlenlicht wieder zurück.«

So hatte es ihm auch dessen Vater erklärt.

Yet hatte brav zugeschaut, während Zemith die Innereien des Hysers entnahm. Er liebte seinen Jungen, darum würde er geduldig sein. Noch wollte er ihm nicht anvertrauen, das Fleisch selbst zu machen. Aber doch hatte Yet die verzehrbaren Innereien in die Bocksen legen können. Dort blieben sie länger frisch und haltbar. Den Rest warfen sie ins Feuer, wo es zischend verbrannte.

»Es war ein Unsterblicher, Vamu. Nicht wahr?«

Zemith blickte dem Jungen ruhig entgegen. Dieser fuhr eifrig fort: »So wie in den Geschichten, die Cressen erzählt. Von den Unsterblichen. Nicht wahr?«

Wieder griff Zemith zum Holzspieß des Jungen und drehte die Hyserkeule. Eigentlich war es nicht nötig gewesen, das Fleisch hätte gut und gerne noch ein paar Momente rösten können. Doch Zemith brauchte Zeit.

Yet liebte die Geschichten und Legenden des alten Cressen. Sie alle kannten sie. Zemith allerdings sah sie als Zeitverschwendung an. Sie taten nichts Gutes, diese Geschichten. Sie gaben kein Fleisch, reparierten keine Kleidung und sorgten nicht dafür, dass die unbrauchbaren Strahlenmesser wieder funktionierten.

Das Einzige was sie taten war, dass die Jungen ihre Jagdzeiten vergaßen und immer ungeschickter wurden. Zemith ärgerte sich, dass er den Sternenhimmel überhaupt erwähnt hatte. Er hatte es getan, weil … ja, warum hatte er es getan?

»Es sind Geschichten«, erwiderte Zemith schließlich. »Wir wissen nicht, ob sie wahr sind. Ob all diese Wesen, Rodan, To’Lot, Bull, ob es sie überhaupt gegeben hat.«

Der Junge starrte in die Flammen. Zemith versuchte sich vorzustellen, was er dachte. Es war einfach. Das Gesicht des Jungen war offen und er konnte in ihm lesen: Yet wünschte sich, dass alle diese Geschichten wahr wären. Er träumte davon, durch den Himmel zu fliegen, so wie es Rodan und Bull auch taten. Er träumte davon, keine Jagdzeiten mehr erleben zu müssen: Er träumte davon, träumen zu dürfen.

Zemith lächelte traurig. Auch er hatte einmal geträumt, sich aber schließlich entschieden, dass die Jagdzeiten wichtiger waren. Sie brachten Fleisch, sie brachten Überleben. Als sie beide, Cressen und er, noch jünger gewesen waren, hatte Zemith gefragt:

»Wie lange erzählen wir uns diese Geschichten schon?«

Cressen hatte überlegt.

»Einige sagen, dass wir das seit sechzig Generationen tun. Andere sagen, seit fünftausend Jahren.«

Die Wahrheit war, dass es niemand wusste!

Zemith drehte seinen Hyser und warf einen Blick auf die Fleischkeule des Jungen. Dieser hielt seinen Holzspieß in angemessener Entfernung zum Feuer. Der Hyser würde nicht verbrennen.

»Vamu?«

Zemith blickte den Jungen an.

»Die Sterne am Himmel, Vamu. Cressen hat es einmal erzählt. Er hat gesagt, wenn ein Unsterblicher stirbt, dann verlässt sein Geist seinen Körper und nimmt die Gestalt eines Sternenhimmels an. Und dieser Sternenhimmel ist heller und schöner als alles, was wir kennen. Und als die Sternenpracht erschien, Vamu, da hast du gesagt, dass wieder einer gestorben ist. Du glaubst die Geschichten, Vamu. Nicht wahr?«

Zemith griff nach dem Holzspieß des Jungen. »Achte auf deinen Hyser«, sagte er nachdrücklich.

Der Junge nickte schüchtern und blieb stumm. Schweigend saßen sie nun beieinander und starrten in die Flammen. Aus seinen Augenwinkeln sah Zemith, wie der Junge verstohlen in den nächtlichen Himmel schaute. Die Sterne waren aufgegangen. Doch es war kein Vergleich zu der Pracht, die sie zuvor gesehen hatten.

Zemith wusste nicht, ob er die Geschichten glaubte. Und er wusste nicht, ob er sie glauben wollte. Yet taten sie nicht gut. Er hatte immer noch Schwierigkeiten damit, ein Feuer zu entfachen. Auf der Jagdzeit nahmen sie keine Zünder mit. Die blieben im Ort, bei den Familien. Dort waren sie sicher und dort brauchte man sie dringender. Von ihnen wusste doch niemand mehr, wie man eine Erwärmungsanlage herstellte. Man brauchte jetzt Öfen.

Geschichten waren etwas für Kinder. Hier mussten die Jungen schnell erwachsen werden. Jagdzeiten, Fleisch machen, überleben. Es spielte keine Rolle, ob die Geschichten wahr waren oder nicht. Es spielte keine Rolle, ob er sie glaubte oder nicht. Rodan, To’Lot oder Attlan – keiner von ihnen brachte Yet bei, wie er einen Twyfal erlegte. Keiner erklärte ihm, dass er die Shemswurzel nicht essen durfte. Keiner von ihnen tat das. Er tat das. Zemith.

Und doch lächelte er traurig, wenn er im Gesicht des Jungen las.

»Vamu?«, erklang erneut die helle Stimme des Jungen.

Zemith wartete ab. Es war offensichtlich, dass dem Jungen etwas auf dem Herzen lag. Eine Frage, die ihm schwerfiel auszusprechen. Aber Yet musste auch lernen, das zu sagen, was ihn beschäftigte. Also wartete Zemith.

»Vamu. Ist … ist es immer so schön, wenn ein Unsterblicher stirbt?«

Erneut griff Zemith nach dem Holzspieß mit dem Hyserstück. Er wusste nicht, was er sagen sollte. War es schön, wenn ein Unsterblicher starb? Und wenn er starb, starb damit auch seine Geschichte? Und was, wenn die Geschichten wahr waren? Waren sie dann überhaupt Geschichten? Konnte Wahrheit dann sterben? Konnte es schön sein, wenn ein Unsterblicher starb?

Zemith hatte keine Antwort. Stattdessen schob er den Spieß des Jungen näher ans Feuer, zog ihn dann wieder etwas nach oben, um ihn dann doch wieder leicht nach unten zu drücken. Der Junge wollte wieder folgsam schweigen, doch Zemith ließ den Holzspieß nicht los. Fürsorglich schob er seine große Hand auf die des Jungen.

Er hat doch sehr kleine Hände, bemerkte er. So klein. Und unschuldig.

Zemith blickte den Jungen an und lächelte.

Er braucht noch etwas Zeit. Er ist nicht geschickt.

»Ja, mein Junge«, sagte Zemith dann. »Das ist es. Es ist immer so schön, wenn ein Unsterblicher stirbt.«

 

4 Gedanken zu „»Die Sternenpracht« von Tennessee“

  1. Wundervoll.
    Eine geradezu poetische Geschichte.
    Hat mich so berührt, dass ich beim ersten Lesen die obligatorische 60 gar nicht bemerkt habe. Musste dann noch einmal gezielt lesen. Ja, sie ist drin.

  2. Ich habe diese Geschichte sehr gerne gelesen und stimme dem Lob von „cej“ uneingeschränkt zu. Ein sehr schöner Text mit einer irgendwie schwebenden Stimmung, der nachdenklich stimmt. Unbedingt lesenswert.

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